Dass Pferde über Jahrhunderte enge Begleiter des Menschen waren, die durch ihre Arbeitskraft die Industrialisierung ermöglichten und schließlich in zwei Weltkriegen zu Millionen verheizt wurden, ist heute kaum mehr vorstellbar. Anstatt das Tier aber wie in früheren Serien (Kakerlaken (2008-16), Das Gebet (2008) usw.) als leidende, gequälte Kreatur darzustellen, greift Valérie Favre überraschend auf Ölgemälde des 19. Jahrhunderts zurück. In ihrer Kraft und Schönheit sollten die Pferde nicht nur Ausdruck von Reichtum, Macht und Kultiviertheit, sondern auch Inbegriff der Kontrolle über die Natur und deren Veredelung durch den Menschen sein.
In den klein- und mittelformatigen Ölbildern von Favres Serie Pferde wird diese Darstellungsweise zum Markenzeichen unheilvollen, lächerlichen Allmachtstrebens. Längst aus dem Alltag des Menschen verschwunden, kehren die gewaltigen Vierbeiner als sich verwandelnde, gespenstische, komische, Masken tragende Wesen wieder, denen nicht zu trauen ist. Sie erinnern an die Pferde(verkleidungen) der Serie Der dritte Bruder Grimm (2006). Vielfältig sind die Bezüge zum eigenen Werk, das neben Pferden viele tierische und hybride Unruhegeister bevölkern, deren Metamorphosen die Hierarchien und Gegensätze von Mensch und Tier, Natur und Kultur, männlich und weiblich usw. ins Wanken bringen und andere Weltverhältnisse vorführen.
In der Ausstellung Unpolitische Works trifft Ölmalerei auf Tusche- und Tintebilder. Die beiden Serien Pferde und Perimeter verzahnt das widersprüchliche Verhältnis von Öl und Wasser: Sie stoßen einander ab, verbinden sich nicht, aber mischen sich doch. Ihre empfindliche Balance lässt sich vielfältig deuten, etwa als malerischer Prozess, ein Gleichgewicht zwischen Kopf, Hand und Material auszuloten, aber auch als die aktuelle fragile politische Weltlage.
In der Serie Perimeter breiten sich auf dem – aus grober Baumwolle zusammengenähten – Malgrund, von dem viel sichtbar bleibt, fleckige Strukturen aus. Sie lassen sich, während die Pferde ihre kunstgeschichtlich vorgeschriebene Gestalt abschütteln, nicht auf eine Form festlegen. Sie sind vieldeutig und wie Kritzeleien mit Unbewusstem verbunden. Flecken sind nicht zu kontrollieren, es sei denn man drückt ihnen Punkt, Punkt, Strich eine Fratze auf. Gleichzeitig erinnern sie an mikroskopische Bilder der Erde und teleskopische des Himmels, wie in Favres Kosmosbildern (Fragmente / Kosmos / Universum), in denen es um die Relativität menschlicher Vorstellungen von Wirklichkeit und den Fokus der Malerei geht, die den Blick auf Phänomene scharf stellt, die sonst unsichtbar blieben.
Seit Ende der Achtzigerjahre in Paris, zuletzt in der Serie Am Tisch (2018), stellt die Malerin subtil und hintergründig – durch verrutschte Kohlemarkierungen, weißen Rand usw. – die Frage nach dem Perimeter, dem Rahmen eines Bildes, also den Grenzen der Darstellbarkeit und gleichzeitig denen des Gesichtsfeldes, was gerade in Zeiten von Krieg und Seuche in seiner ideologiekritischen wie existentiellen Bewandtnis deutlich wird.
Neue Erde heißt dementsprechend die mit Tee auf Kleenex gemalte Weltkugel, die mit der Zeit verblassen und ganz verschwinden wird. Sie könnte daher nur eine Phantasie, eine unerreichbare Utopie oder eben die Erinnerung an unseren – durch Krieg und Zerstörung der Ökosysteme – vernichteten Planeten sein. Diese Ambivalenz, die schon die apokalyptisch visionären Himmelsszenerien der Serie Bateaux des Poètes (2020) bestimmt, kennzeichnet auch die zwei Bilder großer Pferdeköpfe hinter Baumstämmen, auf denen die Leinwand gleichzeitig Leichentuch und Sichtgitter zu werden scheint.
Wenn Favre Pferde, also scheinbar belanglose, unpolitische Natur, malt, ist das, um Bertolt Brechts Gedicht An die Nachgeborenen zu variieren, keineswegs ein Verbrechen. Sie verschweigt nicht, dass unsere Welt aus den Fugen ist.
Axel Ruoff